31. SONNTAG IM JAHRESKREIS

4. November 2012

Evangelium nach Markus (12,28b-34)

Ein Gesetzeslehrer fragte Jesus: »Welches ist das wichtigste von allen Geboten des Gesetzes?« Jesus sagte: »Das wichtigste Gebot ist dieses: 'Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr und sonst keiner. Darum liebt ihn von ganzem Herzen und mit ganzem Willen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft.' Das zweite ist: 'Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!' Es gibt kein Gebot, das wichtiger ist als diese beiden.«

Da sagte der Gesetzeslehrer zu Jesus: »Du hast vollkommen Recht, Lehrer! Es ist so, wie du sagst: Nur einer ist Gott, und es gibt keinen Gott außer ihm. Ihn zu lieben von ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft und unsere Mitmenschen zu lieben wie uns selbst, das ist viel wichtiger als alle die Brandopfer und anderen Opfer, die wir ihm darbringen.«

Jesus fand, dass der Gesetzeslehrer vernünftig geantwortet hatte, und sagte zu ihm: »Du bist nicht weit weg von der neuen Welt Gottes.« Von da an wagte es niemand mehr, ihn noch etwas zu fragen.

Gedanken zum Evangelium

Wenn man im Internet „googelt“ und das Wort Liebe eingibt, kommt man zu einem Ergebnis von 67.600.000. So oft wird dort das Wort verwendet. Es kommt auch in praktisch allen Schlagern vor, in Romanen, in Filmen. Es ist ein zentraler Begriff in unserer Kultur und in unserer Gesellschaft. Nur: Was meint man damit? Meist denkt man dann an hoch intensive Gefühle, die oft erotisch-sexuell beladen sind. Das ist natürlich eine sehr einseitige Sicht. Liebe ist viel mehr. Der inzwischen schon verstorbene Psychoanalytiker Erich Fromm hat ein ganz wichtiges Büchlein geschrieben: „Die Kunst des Liebens“. Er meint: Lieben ist eine Kunst, eine Fähigkeit, die gelernt werden muss. Es gibt die erotisch-sexuelle Liebe, aber auch die Vater- und Mutterliebe, die Liebe vom Kind zu den Eltern, Liebe zwischen Geschwistern, Liebe zwischen Freunden und Freundinnen. All diese Formen der Liebe sind zwar unterschiedlich, aber alle haben dieselben Wurzeln, eine Grundform der Liebe, in der folgende Elemente vorkommen müssen, damit man von Liebe sprechen kann: Fürsorge (Sorge um den anderen), Verantwortung, Respekt und Wissen um den anderen. Liebe ist also mehr als ein Gefühl. Sie ist eine Aktivität: Ich begegne dem anderen „wohl-wollend“, ich bin auf sein Wohl bedacht, ich wünsche und tue ihm Gutes. Dabei muss man nicht immer ein erhabenes Gefühl haben: Wenn man einen Menschen pflegt, dessen Körper mit eiternden Wunden überdeckt ist, dann wird man ganz natürlich Gefühle des Ekels spüren, aber die Pflege selbst, die Tat, ist die Liebe. In Wort und Tat Sorge dafür tragen, dass es einem anderen Menschen gut geht, egal ob dieser Ehemann, Ehefrau, Kind, Bruder, Schwester, Freund oder Nachbar ist. Diese „Nächstenliebe“ ist die Grundform aller anderen Arten der Liebe.

Jesus meint nun, dass die Glaubwürdigkeit unseres Christseins davon abhängt, ob wir einander lieben, wie uns selbst. So wie es die „Goldene Regel“, die im Evangelium aber auch in nicht-christlichen Kulturen vorkommt, sagt: „Behandele den anderen so, wie du von ihm behandelt werden möchtest.“

Das Neue bei Jesus ist nun, dass er diese Nächstenliebe gleichstellt mit der Liebe zu Gott. Für einen an Gott glaubenden Menschen ist die eine Liebe von der anderen nicht zu trennen. Im ersten Johannesbrief wird sogar gesagt: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“

Was heißt aber „Gott lieben“? Ich kann Gott doch nicht „Wohl“ wünschen oder tun! Gott gegenüber bekommt Liebe ein anderes Gesicht. Es ist wie Johannes sagt: „Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ Und zwar bedingungslos. Das hat er in Jesus gezeigt. „Die Menschenfreundlichkeit Gottes ist in Jesus erschienen“. Jesus hat die wohlwollende Zuwendung Gottes zu uns durch seine Lebenspraxis spürbar gemacht.

Mich bedingungslos von Gott geliebt und bejaht zu wissen, macht mich dankbar. Wenn wir fest daran glauben, dass Gott uns bedingungslos liebt, ist es nicht mehr nötig, immer wieder nach Wegen zu suchen, um von den Menschen bewundert zu werden. Ich bin wer, ich bin gut, weil Gott mich liebt. Dieses Gefühl der Dankbarkeit, das dadurch in mir entsteht, durchdringt mein Herz, meine Seele, meinen Verstand (Lieben also mit vollem Verstand, mit meinem 'Denken', mit allen meinen geistigen Kräften.)

Gott lieben heißt dann: Nach Gott fragen, seine Weisungen hören und danach leben, das unendliche „Du“ des Schöpfers anerkennen und achten. Aus Liebe zu Gott versuche ich – so wie Jesus - als dem Gott ent-sprechenden Mensch zu leben. Ich versuche die wohlwollende Zuwendung Gottes zu mir selbst zu praktizieren in meinem Umgang mit dem Mitmenschen, mich um das Wohl des anderen zu sorgen und es fördern, ihn also zu lieben.

Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Mitmenschen und zu sich selbst sind verschiedene und nicht austauschbare Wirklichkeiten, die aber gleichwertig und aufeinander angewiesen sind.

So kann der Hl. Augustinus dann sagen: "Liebe und tu, was du willst! Schweigst du, so schweig aus Liebe; wirst du laut, tu es in Liebe; weisest du zurecht, weise zurecht in Liebe; übst du Nachsicht, tu es in Liebe. Lass die Wurzel der Liebe in deinem Inneren verbleiben: Aus dieser Wurzel kann nur Gutes aufwachsen."

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