19.05.2013
Es gibt Bibeltexte, die wir im Laufe unseres Lebens unzählbare Male hören. Sie sind uns so vertraut, dass wir dann fast nicht mehr zuhören. Und dann kann es geschehen, dass ein so vertrauter Text uns plötzlich total anspricht und berührt. So ist es mir einmal passiert mit dem bekannten Text der Schöpfungsgeschichte: „Gott haucht dem Menschen seinen Lebensatem ein.“ Wie getroffen von einem Blitz war für mich auf einmal klar: Gott hat in den Menschen etwas von sich selbst hineingelegt. Gott ist in uns. Sein Lebensatem, seine Lebenskraft ist in mir. Gott ist tief in mir! Das war überwältigend. Und da fiel mir der Spruch von Augustinus ein: „Gott ist mir näher, als ich mir selber bin.“ Warum sind wir uns dessen so wenig bewusst?
Weil dieser Platz, den Gott in uns, in unserem Herzen einnimmt immer wieder „zugeschüttet“, zugedeckt wird mit allen möglichen Dingen, die uns im Augenblick wichtiger sind, an denen unser Herz wirklich hängt?
Im heutigen Evangelium macht Jesus das Gleiche wie Gott bei der Schöpfung: Er haucht seine Freunde an, er durchdringt sie mit seinem Lebensatem, mit Gottes Kraft: „Empfangt den Hl. Geist“! Das ist am Ostertag. Es wird in dieser Szene nicht gesagt, wie die Freunde von Jesus, die sich aus Angst eingesperrt hatten, darauf reagierten. Konnten sie damit nichts anfangen? Auf jedem Fall wird im Evangelium gleich darauf erzählt: Acht Tage darauf waren sie wieder – hinter verschlossenen Türen – versammelt und diesmal war Thomas dabei. Sie hatten also immer noch Angst. Ist Gottes Geist, seine Kraft in ihnen nicht zur Wirkung gekommen? Hat die Angst in ihren Herzen immer noch die Oberhand gehabt?
Zeigen sich hier nicht Parallelen zu unserer Zeit? Eingeschüchtert von einer um sich greifenden Säkularisierung, erschreckt von Skandalen in der Kirche, ernüchtert von den hohen Zahlen derer, die der Kirche den Rücken kehren, und von den geringer werdenden Zahlen an Taufen, Trauungen und Kirchenbesuchern hat die Kirche in Westeuropa die Angst gepackt. Manchmal meint man, auch die Kirche ziehe sich zurück und verriegele die Türen. Das ist die Großwetterlage von heute. Doch Angst lähmt und führt zum Stillstand. Das ist genauso im persönlichen, privaten Leben vieler Christen: Wie oft trauen wir uns in unserer engsten Umgebung – mit dem Partner oder der Partnerin, mit den eigenen Kindern, in der eigenen Familie und Bekanntenkreis – über Gott, über Jesus und über unseren Glauben an ihn zu sprechen? Haben wir Angst, nicht ernst genommen, bemitleidet, ja sogar angegriffen zu werden? Verdrängen wir die Anwesenheit Gottes in uns? Decken wir seinen Platz in unserem Herzen zu?
In seiner Apostelgeschichte erzählt Lukas dann, wie 50 Tage nach Ostern, am jüdischen Pfingstfest in Jerusalem, Gottes Geist, Gottes Lebensatem explosionsartig in den Freunden von Jesus aufbricht. Lukas beschreibt diese machtvolle Wirkung mit Bildern von Sturm und Feuer. Ängste und Unsicherheiten werden vertrieben, Erstarrtes zum Leben erweckt. Diese Christen leben auf. Getrieben von Gottes Kraft in ihnen gehen sie auf die Menschen zu und beginnen von Jesus und von Gott zu reden. Sie sind verwandelte, neue Menschen. Gottes Lebensatem wirkt. „Atme in uns, Hl. Geist“. Kirche entsteht.
Brauchen wir nicht ein neues Pfingsten? Wollen wir nicht Gott bitten, dass er – sowohl in unserer Kirche als auch in unserem persönlichen Leben – neu aufbricht, uns belebt und erneuert? Ein Hauch von Jesus, Gottes Lebensatem in uns, Gott in uns. Atme in uns, Hl. Geist, jetzt und hier, in dieser Stunde, und neues Leben wird entstehen, in unserem persönlichen Leben, in unserer Pfarrgemeinde, in unserer Kirche.
Sagen wir heute ganz bewusst in unserem Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an den Heiligen Geist.“